Tagesordnungspunkt 8

Aktuelle Debatte

Würdigung des 1. September als Antikriegs- und Weltfriedenstag in einer Welt zunehmender militärischer Konflikte

Antrag Fraktion Die Linke - Drs. 8/4482


Ich erteile Herrn Gallert für die Fraktion Die Linke das Wort zur Begründung dieses Antrages.


Wulf Gallert (Die Linke): 

Ich gebe es ganz ehrlich zu: Die Dramaturgie ist heute ein bisschen holprig. Wir kommen von den Olympischen Spielen nun zum Weltfriedenstag.

(Eva von Angern, Die Linke: Das passt doch!) 

Aber ich hoffe, die Konzentration auf dieses Thema wird dem Anlass angemessen sein.

Der Weltfriedens- und Antikriegstag am 1. September ist ein Datum der deutschen Geschichte, und zwar durchaus im doppelten Sinne. Ich will, weil das vielleicht nicht jedem präsent ist, Folgendes sagen: Im internationalen Bereich, auf UN-Ebene, gibt es auch einen Weltfriedenstag. Dieser wird aber am 21. September begangen und erinnert an die Konstituierung der UN-Generalversammlung.

In Deutschland ist der 1. September - je nachdem; es gibt unterschiedliche Traditionen - Weltfriedens- oder Antikriegstag. Das hat etwas mit der deutschen Geschichte zu tun. Am 1. September hat Deutschland mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg begonnen und damit hat ein ungeahntes und unvergleichliches Verbrechen des 20. Jahrhundert seinen Beginn genommen. 

Daran zu erinnern - das war übrigens in beiden deutschen Staaten so, in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland  , ist Verpflichtung im Hinblick auf unsere deutsche Geschichte, die eben an der Stelle kein Fliegenschiss ist, sondern ein Auftrag an uns mit moralischem Inhalt.

(Beifall bei der Linken - Zustimmung von Andreas Silbersack, FDP)

Dieser Gedenktag dient der Erinnerung an die Gräuel des Krieges, an das millionenfache Töten und das unendliche Leid, das damit verbunden ist. Dieser Tag soll Mahnung sein, alles dafür zu tun, Kriege zu verhindern, diese Ultima Irratio, wie es Willy Brandt so treffend formulierte.

Vergleicht man allerdings diese historischen Einsichten, diesen Rückblick auf das 20. Jahrhundert, mit der heutigen politischen Debatte in der Bundesrepublik Deutschland, kann man nur schockiert sein. Dabei geht es um die zunehmende Militarisierung der Außenpolitik unter dem Begriff der Zeitenwende, um die Herstellung der Kriegsfähigkeit Deutschlands. Nein, nicht verteidigungsfähig, sondern kriegsfähig sollen wir werden. Es geht um immer höher werdende Forderungen der Aufrüstung. Einmal geht es um 100 Milliarden €, ein anderes Mal geht es um 300 Milliarden €. Deutschland müsse, so der Chef der Bundeswehrvereinigung, auf Kriegswirtschaft umgestellt werden. Die Wehrpflicht soll wieder realisiert werden. Neue amerikanische Mittelstreckenraketen in Deutschland wurden in Aussicht gestellt. Jeder, der sich dieser Entwicklung entgegenstellt, wird mindestens als Naivling, häufig aber auch als fünfte Kolonne von Russland, China, der Hamas oder wem auch immer hingestellt.

Aber, werte Kolleginnen und Kollegen, dieser Militarisierung des Denkens und des politischen Handelns stellen wir uns eindeutig entgegen.

(Beifall bei der Linken) 

Das tun wir nicht aus Naivität oder Sympathie für Diktatoren oder Aggressoren, wie es bei der AfD der Fall ist, 

(Zuruf von Florian Schröder, AfD)

sondern aus fester Überzeugung, dass Militarisierung nicht die Lösung unserer Probleme, sondern unser aller Ende sein kann, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der Linken)

Ja, wir leben in einer sehr widersprüchlichen und komplexen Welt. Es überlagern sich politische, ökonomische und militärische Konflikte. Übrigens ist auch deshalb die bedingungslose Parteinahme für eine Seite des Konflikts häufig nichts anderes, als ein Beitrag dazu, Konflikte zu verstärken und die Eskalationsspirale weiter zu drehen.

Nach dem Ende des Kalten Krieges mit seiner gefährlichen globalen Blockbildung, aber immerhin doch noch überschaubaren Konfliktlagen, hatten viele Menschen sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland die Hoffnung, dass Aufrüstung, die Gefahr eines Atomkrieges oder auch militärische Spannungen endgültig der Vergangenheit angehören. Welch ein Irrtum, und zwar auch in Europa. 

Bereits die Brutalität der Jugoslawienkriege der 1990er-Jahre, die teilweise auch den Charakter von Stellvertreterkriegen hatten und letztlich in den von Deutschland mitgeführten Kosovokriegen endeten, zerstörte diese Illusion zuerst. Es ist wichtig, das heute zu erwähnen, weil die Begründung des völkerrechtswidrigen Kosovokrieges durch den damaligen Außenminister Joschka Fischer von Putin bei der Begründung des Überfalls auf die Ukraine fast wortgleich kopiert worden ist. Dieser Krieg, diese Aggression Russlands gegen die Ukraine, spaltet heute die Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland, schürt Ängste und Unsicherheiten, stellt alte Gewissheiten infrage und hat sich auch zu einer ökonomischen Bedrohung des Wirtschaftsmodells der Bundesrepublik Deutschland entwickelt. 

Um es noch einmal ganz deutlich zu formulieren, wie wir es bereits vor zweieinhalb Jahren getan haben: Der zentrale Treiber, die zentrale Ursache dieses Krieges sind die imperialen Großmachtinteressen Russlands und der Versuch, damit das diktatorische Herrschaftsmodell Putins zu stabilisieren. Russland hat es, anders als China, nicht vermocht, eine Entwicklungsstrategie für das postfossile Zeitalter zu entwickeln und es hat seine Innovationskraft lediglich auf die Rüstungsindustrie konzentriert. Das ist die Ausweglosigkeit des russischen Modells und das ist die Ursache dieses Krieges.

Aber es gibt eben auch die Verantwortung des Westens. Die historische Chance, das Ende des Kalten Krieges auch zu einem Ende der militärischen Blockkonfrontation zu machen, wurde verpasst. Statt eine kollektive Sicherheitsstruktur für Europa zu entwickeln, wurde an der Nato festgehalten, die alten Feindbilder wurden weiter bedient und damit stückweise auch alte Feinde wieder rekonstruiert. Ob nun die Raketenschilder in Polen oder dass die deutschen Interessen militärisch am Hindukusch verteidigt werden mussten - all das führte langfristig in eine militärische Konfrontation, die die Argumentation Russlands heute begünstigt und übrigens auch von einem Großteil der Bevölkerung im Osten Deutschlands nachvollzogen wird.

Das jetzt funktionierende System der Rüstungsspirale und der militärischen Eskalation ist recht einfach zu beschreiben: Je größer die eigene Sicherheit aufgrund einer vermeintlich militärischen Überlegenheit ist, umso größer ist die Unsicherheit auf der anderen Seite. Somit fressen sich die Rüstungsspirale und die Militarisierung der Gesellschaft wie eine ansteckende Krankheit durch unsere Zeit.

Glauben Sie denn wirklich, dass die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland ohne russische Antwort oder vielleicht auch chinesische Antwort erfolgen wird? Glauben Sie denn wirklich, dass die Ausweitung des Kriegsgebietes auf russisches Territorium durch die Ukraine einen Waffenstillstand beschleunigen kann? Glaubt eigentlich noch irgendjemand, dass immer neue westliche Waffensysteme den Krieg in der Ukraine beenden werden?

Verstehen Sie uns nicht falsch: Obwohl sich meine Partei dezidiert gegen deutsche Waffenlieferung an die Ukraine ausgesprochen hat, wissen wir um die Komplexität und Widersprüchlichkeit einer jeden Position, egal welche man einnimmt. Man kann mit nachvollziehbaren Argumenten auch zu einem anderen Schluss kommen. Aber die Lösung wird mit diesen Waffen nie verbunden sein.

(Beifall bei der Linken) 

Wenn nach der Lieferung deutscher Panzer fröhlich im Leopardenlook vor der Kamera getanzt wird, als würde es sich um ein Computerspiel handeln, dann sehen wir, wie weit Militarismus inzwischen zur Alltagskultur geworden ist.

(Beifall bei der Linken)

Wie aber kommt man dann zu einer Lösung? Und wie kann man von dieser Spirale permanent fortgesetzter Eskalation abrücken? Der Ruf nach Diplomatie mag naiv klingen, allerdings ist er nicht naiver als die Vorstellung eines militärischen Sieges der Ukraine ohne direkte und massive Beteiligung der NATO, was wiederum auch zu einer unabsehbaren Eskalation führen würde. Verhandlungen um einen Waffenstillstand oder Friedensverhandlungen führt man zwischen Feinden. Die moralische Niedertracht des Systems Putins ist deshalb kein Grund, Verhandlungen auszuschließen. Der Satz „Der Krieg wäre sofort zu Ende, wenn Russland seine Truppen abzöge“ ist völlig richtig, aber das ist wirklich die naivste aller Positionen. 

Wir verschließen übrigens auch nicht die Augen davor, dass die moralische Integrität der ukrainischen Führung angezweifelt werden kann. Das jetzt erfolgte Verbot der Russisch-Orthodoxen Kirche ist Ausdruck eines massiv verschärften Nationalismus in der Ukraine als Reaktion auf den russischen Größenwahn. Nationalismus ist genauso ansteckend wie Aufrüstung und militärische Eskalation. Ja, auch die Sprengung von Nord Stream 2, bei der es laut Generalstaatsanwaltschaft massive Hinweise darauf gibt, dass sie vom ukrainischen Militär gesteuert wurde, 

(Ulrich Siegmund, AfD, und Nadine Koppehel, AfD: Aha!) 

fällt in diese Kategorie. 

Insofern kann es bei einer Befriedung dieses Konflikts vorerst gar nicht um Gerechtigkeit, sondern nur um das Schweigen der Waffen gehen. Ja, der Schlüssel dazu liegt in Moskau, aber er wird nicht durch permanente neue Waffenlieferungen bedient, sondern dadurch, dass man versucht, zusammen mit den BRICS-Staaten und dem globalen Süden Druck auf Russland auszuüben, diesen Krieg zu beenden, in dem globalen Süden übrigens, in dem sich Russland gerade hervorragend als Verteidiger gegen eine westliche Welthegemonie verkauft und immer mehr Zustimmung gewinnt. 

(Gordon Köhler, AfD: Ja, warum wohl!)

Es mag sein, dass all dies zu groß wirkt. Es mag sein, dass viele die Hände heben und sagen: All das werden wir nicht hinkriegen. Aber die Alternative ist: Militarisierung der Gesellschaft, Aufrüstung, Eskalation und irgendwann eine globale Katastrophe, die uns alle Mittel zur Bewältigung unserer realen Probleme raubt. Das zu verhindern ist unsere Aufgabe und dafür steht meine Partei. - Danke. 

(Beifall bei der Linken)


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding: 

Vielen Dank, Herr Gallert. Es gibt zwei Nachfragen, wenn Sie diese zulassen, und zwar von Frau Dr. Richter-Airijoki und von Herrn Rausch senior. - Frau Dr. Richter-Airijoki, bitte. 


Dr. Heide Richter-Airijoki (SPD): 

Herr Gallert, es hat sich in den letzten Jahrzehnten doch einiges an Expertise aufgebaut in über Friedenspolitik, friedenspolitische Maßnahmen, gewaltfreie Methoden der Konfliktregelung, auch sozialen Widerstand. 

(Lothar Waehler, AfD: Nun kommen Sie doch mal zur Frage!) 

Es gibt dazu ganze Forschungsrichtungen, die in den letzten Jahrzehnten entwickelt wurden. Sehen Sie eine Möglichkeit, dass man solche Expertise stärker verwenden kann, auch innerhalb des militärischen Vorgehens? Oder sind das zwei völlig verschiedene Welten - einerseits das rein militärische Denken, das jegliche friedenspolitische Perspektive ablehnt - im Sinne von: wenn Krieg ist, dann ist Krieg  , und andererseits die friedenspolitische Perspektive, die militärischen Widerstand zum Teil gänzlich ablehnt? 


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding: 

Herr Gallert, bitte. 


Dr. Heide Richter-Airijoki (SPD):

Sehen Sie eine Möglichkeit, das zu verbinden? 


Wulf Gallert (Die Linke): 

Ich sage es einmal ganz deutlich, Frau Richter-Airijoki: Ich bin kein Pazifist. Insofern schließe ich auch nicht aus, dass man in einer militärischen Konfliktsituation nicht nur über Alternativen nachdenkt, sondern auch versucht, in einer militärischen Konfliktsituation Alternativen zu realisieren. Das gab es durchaus auch schon in der Geschichte des 21. Jahrhunderts, z. B. das Konzept der unverteidigten Stadt, die angesichts der Alternativen militärische Okkupation oder Zerstörung sagt: Wir verteidigen uns nicht; wir wissen, dass wir dann im militärischen Sinne unterlegen sind, aber wir wissen auch, dass wir dadurch vielleicht Menschen retten. 

Ich sage aber auch ganz deutlich: Das ist immer von der Situation abhängig. Auch das kann in einer grausamen, brutalen Realität enden, so wie es übrigens in vielen russisch besetzten Gebieten in der Ukraine schon geendet ist, und zwar unmittelbar nach Beginn dieses Krieges. Insofern glaube ich auch, dass eines ein Fehler wäre: der Ausschluss solcher Alternativen. Diese muss man immer mitdenken. 

Ich bin aber auch nicht jemand, der sich hier heute aus einer moralischen Perspektive heraus hinstellt und sagt: Es gibt überhaupt keine Möglichkeit, militärisch zu reagieren und zu agieren. Ich sage auch: Selbst in meiner Partei gibt es Positionen wie die, dass man z. B. Raketenabwehrtechnik in die Ukraine liefern sollte. Das merken Sie doch auch, Frau Richter-Airijoki. Die Positionen in Ihrer Partei gehen ebenfalls weit auseinander. Wenn ich Pistorius mit Ihrem Fraktionsvorsitzenden im Bundestag vergleiche, dann stelle ich fest: Es passen drei Parteien dazwischen. 

Insofern sage ich jetzt einmal: Ich will diese Diskussion ernsthaft führen und ich kann an dieser Stelle durchaus auch andere Positionen akzeptieren. - Danke. 

(Beifall bei der Linken)


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding: 

Vielen Dank. - Jetzt Herr Daniel Rausch, bitte. 


Daniel Rausch (AfD): 

Danke, Frau Präsidentin. - Werter Herr Gallert, der Philosoph Cicero hat gesagt: Lieber ein ungerechter Frieden als ein gerechter Krieg. Wäre das eine Option für Sie, wenn Sie an den Ukrainekrieg denken? 


Wulf Gallert (Die Linke): 

Ich sage es noch einmal klar: Das, was wir jetzt erst einmal versuchen müssten - das wissen im Grunde genommen fast alle, die sich mit dieser Geschichte ernsthaft auseinandersetzen  , ist, eine Situation zu schaffen, in der die Waffen schweigen. Es gibt einen Unterschied zwischen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen. Ein Waffenstillstand muss die Voraussetzung für Friedensverhandlungen sein. 

(Zustimmung bei der Linken)

Das ist sozusagen der Unterschied. Am Ende dieser Friedensverhandlungen muss dann ein gerechter Frieden stehen. 

Diesen Satz einfach so stehen zu lassen - auch das hat uns die Geschichte bewiesen  , legt die Saat für einen neuen Krieg. Wir haben diese Debatte im 20. Jahrhundert mit dem Ersten Weltkrieg bereits gehabt. Man muss diese militärischen Konfrontationen auch als Ausdruck von politischen und ökonomischen Widersprüchen, von Interessenungleichheiten bezeichnen. Wir wissen, dass Kriege heute auch ohne Waffen geführt werden können. Wenn eine Wirtschaft dadurch völlig ruiniert wird, wenn die Menschen keine Perspektive haben, dann wird das auch nicht die Grundlage für einen dauerhaften Frieden sein. Wir brauchen für die dauerhafte Befriedung funktionierende Systeme und dafür brauchen wir am Ende auch einen gerechten Frieden. - Danke. 

(Beifall bei der Linken)


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding: 

Vielen Dank, Herr Gallert.