Tagesordnungspunkt 9

Aussprache zur Großen Anfrage

Pflegekinderwesen in Sachsen-Anhalt

Große Anfrage Fraktion DIE LINKE - Drs. 8/3255

Antwort der Landesregierung - Drs. 8/3744

Unterrichtung Landtag - Drs. 8/3818

Entschließungsantrag Fraktion DIE LINKE - Drs. 8/3874

Entschließungsantrag Fraktionen CDU, SPD, FDP - Drs. 8/3911


Für die Aussprache zur Großen Anfrage ist die Redezeitstruktur „D“ mit einer Gesamtdebattendauer von 45 Minuten vereinbart worden. Die Fraktionen sprechen in der folgenden Reihenfolge und haben folgende Redezeit: CDU 13 Minuten, AfD acht Minuten, FDP zwei Minuten, GRÜNE zwei Minuten, SPD drei Minuten und DIE LINKE vier Minuten. 

Gemäß § 43 Abs. 6 der Geschäftsordnung des Landtages erteile ich zuerst der Fragestellerin das Wort. Das ist in diesem Fall Frau Monika Hohmann von der Fraktion DIE LINKE. - Frau Hohmann, Sie haben das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)


Monika Hohmann (DIE LINKE):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch in dieser Wahlperiode haben wir als Fraktion die Große Anfrage zur Situation des Pflegekinderwesens in Sachsen-Anhalt gestellt. Für die Beantwortung der Fragen möchte ich mich recht herzlich bei den teilnehmenden Landkreisen, kreisfreien Städten und auch bei der Landesregierung bedanken. 

Leider haben wir keine Informationen aus der Stadt Halle, dem Burgenlandkreis und dem Bördekreis erhalten. Sie sahen mit Verweis auf die angespannte Personalsituation und die Freiwilligkeit der Rückmeldung von einer Beantwortung der Fragen ab. Dennoch, denke ich, haben wir einen guten Überblick über die Lage und über die Herausforderungen von Pflegeeltern erhalten. 

In meinen Ausführungen kann ich nicht auf alle Antworten eingehen. Ich werde mich deshalb auf einige wesentliche Antworten und Ergebnisse dieser Anfrage beziehen. 

Meine Damen und Herren! Zufriedene Pflegefamilien wirken sich auf die Gewinnung neuer Pflegefamilien als beste Werbung aus. 

(Beifall bei der LINKEN)

Dieser Satz einer Mitarbeiterin im Pflegekinderwesen ist mittlerweile schon acht Jahre alt. Aber er trifft meiner Meinung nach immer noch den Nagel auf den Kopf. Einige positive Veränderungen sind seit der letzten Wahlperiode durch meine Fraktion bereits angestoßen worden. Das Land fördert finanziell sowohl das Fachzentrum für Pflegekinderwesen in Sachsen-Anhalt als auch den Landesverband für Pflege- und Adoptiveltern e. V. Des Weiteren orientiert sich Sachsen-Anhalt seit dem 1. März 2017 an der Kinder- und Jugendhilfe-Pflegegeld-Verordnung des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e. V. zur Bemessung und zur Fortschreibung der Pauschalbeträge in der Vollzeitpflege. Das ist eine große Errungenschaft. Damit wurden seit diesem Zeitpunkt auch die finanziellen Rahmenbedingungen für Pflegefamilien wirksam verbessert. 

(Beifall bei der LINKEN)

Leider konnte erstmals die Verordnung für das Jahr 2024 nicht vollumfänglich fortgeschrieben werden. Der Satz für die Kosten der Erziehung aus dem Jahr 2023 wurde eingefroren. Eine Erhöhung soll erst zum 1. Januar 2025 erfolgen. Der Sprung von einst 275 € auf 420 € war nach Aussagen der kommunalen Spitzenverbände einfach zu hoch und nicht mehr in den aktuellen Haushalten darstellbar. Aber mit dem Satz für die Kosten der Erziehung sollen unabhängig von der Qualifikation der Pflegeeltern die besonderen Anforderungen, die Pflegeeltern zu erfüllen haben, ihr zeitlicher Einsatz, ihr pädagogisches Engagement und ihre erzieherische Leistung Anerkennung finden. Daher - das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen - ist es nur folgerichtig, dass wir derzeit aufgrund einer Petition über dieses Thema im Petitionsausschuss beraten. 

(Beifall bei der LINKEN)

Sehr geehrte Damen und Herren! Leider konnten bisher nicht alle Beschlüsse, die der Landtag in den Jahren 2016 und 2019 hier im Hohen Haus gefasst hat, umgesetzt werden. Dazu zählt der Punkt, mit den kommunalen Spitzenverbänden Gespräche aufzunehmen mit dem Ziel, gleichwertige Rahmenbedingungen für Pflegeeltern in Sachsen-Anhalt zu schaffen.

Im Jahr 2019 verständigten wir uns darauf - ich zitiere  , „den Dialog mit den örtlichen Trägern der Jugendhilfe aufzunehmen, um zum einen zusätzliche Bedarfe der Pflege- und Adoptivfamilien transparenter und vergleichbarer zu gestalten, und zum anderen sich darüber auszutauschen, welche personellen Bedarfe bzw. Mindestmaße der Jugendämter bei der Beratung, Betreuung und Begleitung von Pflege- und Adoptiveltern notwendig sind.“ 

Warum erwähne ich das? - Bereits im Jahr 2019 ergaben die Antworten zu unserer Großen Anfrage, dass die Rahmenbedingungen in den Landkreisen und kreisfreien Städten sehr unterschiedlich sind. Daran hat sich bis heute nichts geändert. 

Einige Beispiele dafür möchte ich Ihnen gern präsentieren. Während es im Landkreis Stendal zur Einschulung eines Pflegekindes einen Zuschuss in Höhe von 75 € gibt, sind es im Saalekreis 130 €. Für eine Brille gibt es im Landkreis Anhalt-Bitterfeld bis zu 30 € Zuschuss und im Saalekreis 150 €. Für Ferienfreizeiten oder Urlaubsreisen gibt es im Landkreis Anhalt-Bitterfeld gar keinen Zuschuss, während der Saalekreis dafür 280 € aufwendet. Für den Erwerb einer Fahrerlaubnis zahlt der Landkreis Stendal nichts dazu, während der Saalekreis 1 000 € aufwendet. Beim Elterngeld bezahlt der Landkreis Wittenberg 300 €, während der Landkreis Harz 800 € gewährt. Das, meine Damen und Herren, ist nur ein kleiner Ausschnitt. Ich könnte das fortsetzen. 

Sie stellen wieder fest, wie ungleichmäßig das in den Landkreisen vollzogen wird. Deshalb sage ich auch öfter einmal zu den Pflegeeltern oder auch zu den Pflegekindern, dass es schon spannend ist, in welchem Landkreis man Pflegeeltern oder Pflegekind ist. Entweder hat man Glück oder man hat Pech. Insofern, denke ich, ist es Zeit, dass wir dieses Thema wieder in Angriff nehmen. 

(Beifall bei der LINKEN)

Deshalb haben wir in unserem Entschließungsantrag unter Punkt 1 nochmals das Anliegen aufgenommen. Wir fordern die Landesregierung erneut auf, sich für die Vereinheitlichung der Kataloge der einmaligen Beihilfen und Zuschüsse einzusetzen und hierfür Gespräche mit den kommunalen Spitzenverbänden aufzunehmen, nämlich mit dem Ziel, gleichwertige Rahmenbedingungen für Pflegeeltern und Pflegekinder in Sachsen-Anhalt zu schaffen. 

Ich gebe die Hoffnung nicht auf - aller guten Dinge sind drei; vielleicht klappt es im dritten Anlauf  , dass wir hier im Land wirklich gleichberechtigte Startchancen für alle Pflegekinder erreichen. 

(Beifall bei der LINKEN)

Sehr geehrte Damen und Herren! Nun komme ich zu einzelnen Zahlen aus unserer Anfrage. Ende 2022 lebten 3 004 Pflegekinder bei 2 151 Pflegeeltern. 4 581 Heimkinder befanden sich in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Seit 2010 stieg die Anzahl der Pflegekinder im Alter unter 18 Jahre kontinuierlich, von einst 1 918 auf derzeit 2 765 Kinder. Ebenfalls ist diese Entwicklung bei den unter Dreijährigen zu beobachten. Im Jahr 2010 hatten wir noch 138 unter Dreijährige in Pflegefamilien. Im Jahr 2022 sind das mittlerweile 240 unter Dreijährige. Obwohl die Unterbringung der Null- bis Sechsjährigen bevorzugt in Pflegefamilien erfolgen sollte, damit sie in besonderem Maße von den familienähnlichen Strukturen und von den kontinuierlichen Bindungsangeboten profitieren können, kann diese Form nicht überall gewährleistet werden. 

Während im Landkreis Anhalt-Bitterfeld 61,4 % der unter Sechsjährigen in die stationäre Kinder- und Jugendhilfe aufgenommen werden, sind es im Altmarkkreis Salzwedel nur 13,5 %. Deshalb setzen wir in unserem Antrag verstärkt auf die Erarbeitung einer positiven Imagekampagne zur Gewinnung weiterer Pflegeeltern.

(Zustimmung bei der LINKEN und von Susan Sziborra-Seidlitz, GRÜNE)

Sehr geehrte Damen und Herren! Im Jahr 2022 fanden in Sachsen-Anhalt 1 700 Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen statt. Im Jahr 2017 waren es noch 1 266. Die Gründe der Inobhutnahme waren Überforderung der Eltern mit einem Anteil von 651 Fällen und Vernachlässigung durch die Eltern mit einem Anteil von 319 Fällen. Ebenfalls sind der Kindesmissbrauch und sexuelle Übergriffe mit 116 Fällen zu nennen.

Welche Personen melden? - An erster Stelle sind es die Jugendämter mit 1 173 Meldefällen. An zweiter Stelle stehend überraschend die Kinder selbst. Das sind 203 Fälle. Danach kommen erst die Polizei mit 127 Meldungen und die Eltern mit 89 Meldungen. Von Ärzten, Erzieherinnen und Lehrerinnen erfolgen die Meldungen eher selten. Von diesen haben wir 31 Meldungen zu verzeichnen.

In unserer vorherigen Großen Anfrage haben wir uns nach dem Status der Herkunftsfamilien erkundigt. Nach der damaligen Auskunft der Landkreise und kreisfreien Städte erhalten die Herkunftseltern überwiegend Sozialleistungen nach dem SGB II oder auch Sozialhilfe. Sie verfügen oftmals nicht über einen Schul- oder Berufsabschluss. Sie sind alleinerziehend, leben getrennt oder in wechselnden Partnerschaften. Ebenfalls sind sie oft gesundheitlich beeinträchtigt, bspw. psychisch erkrankt. Ihre Erziehungsfähigkeiten sind eingeschränkt oder sie besitzen wenig soziale Kompetenz.

Auch im Jahr 2022 hat sich an diesem Befund nicht viel geändert. So sind von den 568 Eltern, deren Kinder bei Pflegeeltern leben, 445 im Bezug von Transferleistungen. Bei der Heimerziehung sind 1 211 von 1 821 Eltern im Bezug von Transferleistungen. Es gilt nach wie vor, dass wir die Hilfen und die Unterstützung für Alleinerziehende in Sachsen-Anhalt weiter ausbauen müssen.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Sehr geehrte Damen und Herren! Zum Schluss meiner Rede möchte ich auf ein zunehmendes Problem der Pflegeeltern aufmerksam machen. Immer wieder stoßen Pflegeeltern an ihre Grenzen, wenn sie ein Kind aufnehmen, das mit einem großen Rucksack an Problemen zu ihnen kommt. Sehr häufig haben sie gesundheitliche Beeinträchtigungen, von denen die Jugendämter mal mehr oder mal weniger Kenntnis haben. Ich spreche von FASD, nämlich der Fetalen Alkoholspektrumstörung. Diese entsteht, wenn werdende Mütter während der Schwangerschaft Alkohol trinken. Dann besteht ein hohes Risiko, dass sie ein behindertes Kind auf die Welt bringen. Diese Kinder haben im Alltag mit gravierenden Handicaps zu kämpfen. Sie zeigen Entwicklungsstörungen, haben Merk- und Lernschwierigkeiten, haben eine eingeschränkte Impulskontrolle und neigen zu sozial unangemessenem Verhalten sowie Hyperaktivität. Der Landkreis Anhalt-Bitterfeld beziffert in seiner Antwort zu der Großen Anfrage, dass ungefähr 30 % der Pflegekinder davon betroffen sind.

In unseren Gesprächen mit Vertreterinnen des Landesverbandes der Pflege- und Adoptiveltern hörten wir, dass in Sachsen-Anhalt die Vermittlung und Begleitung von Kindern mit Förderbedarfen - das sind genau diese Kinder - in der Praxis als unzureichend eingeschätzt wird. Aktuell wird in allen Kommunen die Anerkennung einer sonder- oder heilpädagogischen Pflegestelle nach eigenen Richtlinien der Kommunen vollzogen. Dies führt in den Pflegefamilien wieder zu einer wohnortabhängigen Bewertung und bringt höhere Aufwendungen und Belastungen mit sich. Aus diesem Grund benötigen wir - ich denke, diesbezüglich spreche ich im Namen des Landesverbandes der Pflegeeltern - eine landesweit einheitliche Richtlinie, welche unter anderem eine intensive Begleitung der Kinder gewährt, eine bessere finanzielle Unterstützung und Entlastung mit sich bringt sowie den Pflegefamilien Fortbildungsangebote zur Verfügung stellt. Deshalb haben wir diesen Punkt auch in unseren Entschließungsantrag aufgenommen.

Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn wir das Pflegekinderwesen in Sachsen-Anhalt weiter verbessern wollen, dann müssen sich die Rahmenbedingungen auch auf der Bundesebene ändern. Dazu zählen die Gleichstellung der Pflegeeltern beim Bundeselterngeld sowie ein angemessener Beitrag zur Altersvorsorge von Pflegepersonen, damit eine Armut im Rentenalter verhindert wird. Zufriedene Pflegefamilien wirken sich auf die Gewinnung neuer Pflegefamilien als beste Werbung aus. Das kann ich nur immer und immer wiederholen.

(Zustimmung bei der LINKEN und von Olaf Meister, GRÜNE)

Lassen Sie uns dafür Sorge tragen, dass dieser Satz auch mit Leben erfüllt wird.

Jetzt noch eine Anmerkung zum Entschließungsantrag der Koalition. Er greift im Wesentlichen die Punkte auf, die auch in unserem Entschließungsantrag stehen. Allerdings fehlt mir ein Punkt, nämlich unser Punkt 2, dass wir auf der Bundesebene wirklich alles dafür tun sollten, die Anerkennung für die Rente und auch die Gleichstellung beim Bundeselterngeld voranzutreiben. Wenn dieser zweite Punkt von uns mit aufgenommen wird, dann können wir auch Ihrem Entschließungsantrag zustimmen. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Zustimmung bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)